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Ego

Mein erster Halbmarathon – der 37. Berliner Halbmarathon

Heute ist ein wirklich besonderer Tag für mich. Ich habe mir einen großen Wunsch erfüllt: ich bin einen Halbmarathon gelaufen, den 37. Berliner Halbmarathon. Das Fazit in Kurzform: Geiles Wetter, geile Leute, geile Stimmung – ein echtes Erlebnis! Noch dazu in einer Zeit, die ich mir gewünscht habe, das heißt: unter zwei Stunden. Doch durch die Tücken der BVG und aufgrund meiner Verpeilung (= Aufregung im Vorfeld) habe ich um Haaresbreite — und das ist in diesem Falle wörtlich zu nehmen — den Start verpasst…

 

Es geht los!

Als ich heute um 9:30 Uhr meine Kinder einem Freund anvertraute — Jürgen, du bist mein Held! Echt jetzt! — und auf mein Fahrrad stieg, um an der S-Bahn Station Neukölln in die Ringbahn S42 Richtung Frankfurter Allee und Strausberger Platz einzusteigen, ließ ich die letzten 20 Monate nochmals Revue passieren… Das vor fast zwei Jahren gescheiterte ‚Lebensprojekt Familie‘ hatte tiefe Spuren hinterlassen — innen, außen, im Gemüt. Geschockt, enttäuscht, gekränkt und verwirrt habe ich viele Monate nur funktioniert: Job, Kinder und die Basics des Alltags; für mehr war einfach kein Sprit im Tank.

 

Die Absicht

Ein Buch als Motivator
Dieses Buch küsste meinen alten Wunsch wieder wach, endlich einen richtig langen Lauf zu wagen…

Im April 2016 fiel mir ein Halbmarathon-Buch auf dem Nowkölln Flowmarkt am Maybachufer in die Hand: „Aha, da ist er wieder, der alte Traum einen Marathon zu laufen. In meiner Verfassung aber nicht daran zu denken. Doch vielleicht tut es ja auch ein Halbmarathon…“. Einen Monat später saß ich mit diesem Buch im Garten des Wassergrundstücks einer Bekannten in Friedrichshagen, blätterte im herrlichen Sonnenschein in den ersten 50 Seiten herum und meldete mich kurzentschlossen via Handy und Online-Überweisung für den 37. Berliner Halbmarathon an. Dieser sollte ein knappes Jahr später am Anfang des Frühlings in der Hauptstadt stattfinden (am Sonntag, den 2. April 2017, also heute). Mit diesem Lauf würde ich ‚diesem ganzen Scheiß der letzten Monate‘, des letzten Jahres, einfach weglaufen, ihn hinter mir lassen, nach vorne schauen, die Dinge sortieren und neu anpacken. Die Monate darauf lief ich regelmäßig, ein- bis  zweimal die Woche zehn, elf oder zwölf Kilometer, selten aber 14 oder 15 Kilometer oder gar eine Distanz, die in die Nähe eines Halbmarathons gekommen wäre (knapp 21 Kilometer, 21,0975 Kilometer um genau zu sein).

Ein Frühlingstag in Friedrichshagen, perfekte "Kulisse" für eine persönlich wichtige Entscheidung
Friedrichshagen im Mai 2016: herrlicher Frühlingstag am Wassergrundstück, perfekt für eine Anmeldung zum 37. Berliner Halbmarathon 2017

 

Der Herbst und der Husten

Ein Sonntagmorgenlauf durch Berlin
Eine typische Distanz in meiner Laufroutine

Der Herbst begann, die Erkältungskrankheiten der Kinder ebenso. Ständig brachten sie irgend einen anderen Infekt aus Hort und Kita mit, den auch ich manchmal abbekam. Bis es Mitte Dezember 2016 zu einer Dauererkältung meinerseits kam, die nicht mehr weichen wollte und das Laufen unmöglich machte. Trauriger Höhepunkt: Weihnachten verbrachte ich vom 23. bis 31. mehr oder weniger fiebernd im Bett und vor dem Fernseher („Hail, Amazon Prime Video, hail!“). Am Silvestertag kamen meine Kinder aus dem hessischen Weihnachtsurlaub zurück, ich musste wieder ‚ran‘. Mehr schlecht als recht erholt, würde ich sie jetzt 10 Tag am Stück haben. Das konnte in meinem Zustand nur in die Hosen gehen…

 

Der Winter und die Grippe

Ende Januar 2017 schlug dann aufgrund meines dauertraktierten Immunsystems eine richtig fiese Grippe zu, die in diesem Jahr wohl ganz viele Berliner im Würgegriff hatte. Ich bekam über zehn Tage (!) 39.5 Grad Fieber und trotz hoher Dosen Paracetamol, ging das Fieber nur stundenweise runter – vier Arztbesuche inklusive, um eine Lungenentzündung auszuschließen. Ich lag die ganze Zeit im Bett, schwitzte mich in der Nacht ‚tot‘ und dachte nur: „Halleluja, hast ja schon einiges erlebt, aber sowas kennst du noch gar nicht…“

Ende Februar war ich einigermaßen wieder auf dem Damm. Den Halbmarathon hatte ich allerdings schon abgeschrieben. Ich dachte nicht, dass ich innerhalb von fünf Wochen wieder in eine Laufroutine kommen würde, die mich auch nur ansatzweise in die Nähe der 21 Kilometer bringen würde. Das Halbmarathon-Buch hatte ich seit Mai 2016 auch nicht mehr angerührt. Von anderen Läufern hatte ich an anderer Stelle zudem etwas aufgeschnappt, was einen Start auch nicht gerade realistisch erscheinen ließ: „Wenn du einen Halbmarathon laufen willst, dann solltest du die Strecke wenigstens einmal vorher gelaufen sein.“

 

Das Comeback und der Durchbruch

Ein Halbmarathon als Trainig zum Halbmarathon
Plötzlich waren es 21 km…

Im März 2017 machte meine Fitness dann erstaunlich gute Fortschritte. Ich lief am 17.03. erstmals seit längerer Zeit wieder 15 Kilometer, und am 25.03. wurden aus den beabsichtigten 18 Kilometern — meinem „Lackmustest pro/contra 37. Berliner Halbmarathon“ — tatsächlich 21. Kilometer. Da hatte ich ihn plötzlich, den Halbmarathon, unbeabsichtigt, aus dem ‚flow‘ des Momentes heraus geschafft, in einer für mich sagenhaften Zeit bewältigt. Denn: Mit 1:52:20 (Stunden/Minuten/Sekunden) für den Lauf und einem Durchschnitt von 5:21 (Minuten/Sekunden) lag ich fast 20 Sekunden pro Kilometer schneller als sonst. Wenn ich in meinem Lieblingstempo laufe, liegen meine Bestzeiten bei einem Durchschnitt von 5:40 Minuten pro Kilometer. Hatte das GPS von RunKeeper eine Macke? Keine Ahnung, aber möglich (wie bei allen digitalen Daten). Und dennoch: Die getrackte Zeit steht da jetzt für immer, ich habe sie ‚errannt‘ und erlebt, ohne Schummeln, Pinkel-, Trink- oder Gehpausen und dergleichen. Der 37. Berliner Halbmarathon war also in eine realistische Reichweite gerückt. Ich musste nur noch einen Babysitter finden, denn es war mein Wochenende mit den Kids…

Unerwartet lief ich 21 km
Der ‚private‘ Halbmarathon in Zahlen. Hatte das GPS eine Macke? Keine Ahnung, aber geile Zeit 🙂

 

S-Bahn Station Neukölln

Die S-Bahn Station Neukoelln an der Sonnenallee
Die S-Bahn Station Neukoelln an der Sonnenallee

Als ich am Vormittag des Halbmarathons an der S-Bahn Station Neukölln mein Fahrrad abstellte (happy, dass es mit der Kinderbetreuung geklappt hatte), fiel mir auf, dass ich die ‚S-Bahn Banane‘ im heimischen Früchtekorb vergessen hatte. Wie ärgerlich! Sie sollte mein zweites Frühstück auf dem Weg zum Lauf sein. Mist, verdammt noch mal! Ausreichend Kohlenhydrate im Vorfeld einer so langen Strecke sind Pflicht. Mein Sonntagsfrühstück hatte aus zwei Milchkaffee, einem halben Liter Wasser und eben einer Bio-Banane (von zwei angedachten) bestanden. Die Zweite sollte entspannt in der S-Bahn vernascht werden. Meinen Kids hatte ich um 9:00 Uhr leckere Pfannekuchen gemacht, wollte aber kein Risiko eingehen und mir etwas ‚einpfeifen‘, dass mir aufgrund der Anspannung später im Magen hätte liegen können: zum Beispiel ein hastig verschlungener Pfannekuchen. Aus der nicht vorhandenen Banane wurde dann ein real existierender Doppelriegel von Lion, erstanden im unglaublich deprimierenden, trostlosen Kiosk dieser alten S-Bahn Station. Sie strahlt immer noch diesen fragwürdigen Charme aus, eine Art Endstation-Feeling, das nicht weichen will, so als ob die Berliner Mauer, die nur ein paar Meter von hier entlang lief und Mitten auf der Sonnenallee den Kapitalismus vom Kommunismus trennte, immer noch stehen würde. Genau dieser kleine Einkauf ließ mir meine geplante Bahn, ermittelt mit der VBB-App für das iPhone, um genau 12 Sekunden vor der Nase abfahren. Fuck! Ich hasse so was. Wie ich das hasse… Die nächste S-Bahn sollte 10 Minuten später kommen, als plötzlich eine Ansage die Station mit der Information beschallte, dass sich die nächste S42-Ringbahn „…um einige Minuten verspätet. Wir bitten um Entschuldigung.“ Fuck, fuck, fuck! Es Banhofsuhr zeigte 10:10 Uhr, die ersten Läufer waren schon seit fünf Minuten auf der Strecke.

 

34.000 Läufer in Block A bis F

Aufgrund der Aufteilung in die sechs Startblöcke A-F mit unterschiedlichen Startwellen, wusste ich durch zwei Anrufe beim Veranstalter SCC Events, dass der letzte Startblock F, für den ich meine Startnummer 24577 hatte (weil ich bei der Anmeldung im Mai 2016 keine Bestzeit angeben konnte), gegen 10:40/45 Uhr starten würde.

 

U5 – Alexanderplatz versus Hönow

Ich sitze also in der Ringbahn, auf glühenden Kohlen, mit meinen Laufschuhen, die ich schon genauso an habe wie meine Laufhose, nervös wippend. Meine Oberschenkel zwicken schon vor Anspannung. Ich schiebe die Verfickt-zu-spät-gekommene-S-Bahn-S42 in meinen Gedanken mit an und verfluche diesen verführerischen Lion-Riegel. Ich sehe mich schon weit vor der Haltestelle Frankfurter Allee in die U5 umsteigen, um mit ihr an den Strausberger Platz zu gelangen. Ich sehe mich zum Eingang zu eilen, meinen Kleiderbeutel abgeben, damit ich den ersten Halbmarathon meines Lebens laufen kann, damit ich eine besondere Veranstaltung genießen kann, damit ich all das hinter mir lassen kann, was mich nervt: eine gescheiterte Liebesbeziehung, zerbrochene Illusionen, Trauer, Trennung, Stress, Scheidung, Ex-Frau und viele weitere ‚Dinge‘, die damit zu tun haben.

Ich steige also in die U5 ein, bin seit Jahren nicht mehr mit der U5 gefahren, muss noch vier Stationen weiter Richtung Alexanderplatz, denke noch: „Es ist 10:30 Uhr, alter Schwede, das wird knapp, kennst das Gelände nicht, musst ja noch deinen Kleiderwagen finden, anderes T-Shirt mit der Startnummer anziehen, zu deiner Startzone“ usw. Und wie ich in der U-Bahn sitze und nach der vierten Station nicht der Strausberger Platz angekündigt wird, flippe ich innerlich aus. Ahhhhhhhhh! Ich bin in die falsche Richtung gefahren. Wie ein beschissener Anfänger. Muss zurück. Die U-Bahn hält am Tierpark, ich jumpe raus, auf der gegenüberliegenden Seite will eine stehende U5 mit offenen Türen gerade ins Heilige Land Richtung Alexanderplatz, denn es piept und die Türen werden gleich zugehen. Die Türen setzen sich in Bewegung, schließen sich und ich hechte mit einem Satz und meinem Rucksack durch den letzten offenen Schlitz, kneife die Augen einfach zu, weil ich damit rechne, dass mein Rucksack noch zwischen die Lefzen der unnachgiebig zubeißenden linken und rechten Seite gerät. Doch ich und mein Rucksack, wir bleiben wie von Zauberhand beschützt, unversehrt. Ich fahre also zurück, zähle zwanghaft die Sekunden, versehe jede Station mit einem Stoßgebet und guten Wünschen, damit mein Traum nicht irgendwo in den kalt beleuchteten Gängen der U5 zwischen Hönow und Alexanderplatz armselig verreckt.

 

Ankunft

Strausberger Platz, ich komme an, renne die Treppen hoch, renne zum Gelände, finde meinen Kleiderwagen, reiß mir den Rucksack runter, reiß den Reißverschluss auf, um das Lauf-Shirt rauszuholen, stopfe meine Jacke rein, mein Portemonnaie, meine Schlüssel, mein iPhone, dass ich zum ersten Mal seit Jahren nicht zum Laufen mitnehmen werde, um mich voll und ganz dem Erlebnis an sich zu widmen und nicht einer digitalen Anzeige auf meinem Bizeps.

Und die zwei Damen, die total entspannt links und rechts auf der Rampe des Lastwagens sitzen, schauen mich verwundert und fragend an, ziehen ihre Augenbrauen hoch:

Dame 1: „Hmmm… was wird’n das jetzt?!“

Ich: „Ich gebe jetzt meine Klamotten ab.“

Dame 2: „Aber is‘ doch schon gelaufen.“

Ich: „Wie???!! Is‘ schon gelaufen?“

Dame: „Der letzte Block ist doch schon los, da geht nix mehr.“

Ich: „Echt jetzt? Oh nein, was für’n Scheiß, das kann nicht sein!!!“

Dame 1: „Hmmm…“

Ich: „Ich muss da jetzt hin und dann sehen wir.“

[Ich versuche meinen Rucksack in den Kleiderbeutel mit meiner Startnummer zu zerren, damit ich ihn später wieder finde; es gelingt mir nicht, der Rucksack hat sich durch das Gerenne der letzten Minuten und mein hektisches Gezerre mit T-Shirt und Jacke irgendwie ‚verbogen‘].

[Ein Ordner, der wohl unseren Mini-Dialog mitbekommen hat, kommt von hinten angerauscht. Er spricht in sein Walkie-Talkie, hört ‚rein‘ und spricht zu mir].

Ordner: „Die Startlinie schließt in einer Minute.“

Dame 2 [guckt sich das Dilemma mit meinem Rucksack noch ein paar Sekunden an und sagt dann]: „Komm, jebn ’se ma dit Teil her, ick mach dit schon.“

Ich: „Wie? Echt, jetzt??? Oh, Mann, 1000 Dank!!!“

[Ich übergebe den Kleiderbeutel und sprinte los, die gefühlten 400 – 500 Meter zur Startlinie fest im Blick].

Dame 1 und Dame 2: „Viel Glück!“

Ich [wedelnd]: „Danke, danke, 1000 Dank!“

[Als ich die Startlinie vor mir sehe, noch 40 – 50 Meter entfernt, höre ich eine Stimme…].

Sprecher: „Die Startlinie schließt in wenigen Sekunden, meine Damen und Herren, gleich ist soweit… in [ein Countdown startet]: zehn, neun, acht, sieben, sechs…“

Ich: „Fuck, fuck, fuck. Oh nein, oh nein, das darf nicht sein!!

[Ich lege noch eine Schippe auf meinen Sprint drauf – die wievielte war das jetzt eigentlich seit der S-Bahn Neukölln? –, und als der Countdown diese Mini-Pause zwischen der drei und der zwei hat, springe ich mit meinem Chip, der an meinem linken Schuh befestigt ist und der nach Zwischenzeiten bei fünf, zehn und 15 Kilometern am Ende der knapp 21 meine Zeit mitteilen wird, über die Startlinie. Bingo, Jackpot, Full House: Ich bin dabei!].

 

Der Letzte von 34.000 wird der 8.584. des 37. Berliner Halbmarathon

Ich bin quasi als letzter Läufer des 37. Berliner Marathons gestartet, als letzter Läufer des Startblock F. Ich kann es kaum fassen, dass es noch geklappt hat. Ich war praktisch gleich zu Beginn des Halbmarathons schon total außer Atem: die Hechterei durch die U-Bahn, treppauf, treppab, der Sprint zum Eingang, die hektische Suche nach dem Kleiderwagen, in dem ich meinen Kleiderbeutel abgeben konnte, der Sprint über das Gelände des Halbmarathons zur Startlinie, all das… Wahrlich kein guter Start für ein Erlebnis, dass ich genießen wollte, um danach mit Dingen anders umzugehen. Und jetzt hatte ich neben mir noch 34.000 andere Verrückte vor der Nase, denen ich ständig ausweichen oder die ich überholen musste, um mein Tempo, meinen Rhythmus und meine Zeit zu finden.

Mit simplen Stecknadeln am Lauf-Shirt befestigt: Meine Startnummer beim 37. Berliner Halbmarathon
Mit simplen Stecknadeln am Lauf-Shirt befestigt: Meine Startnummer beim 37. Berliner Halbmarathon

Aber es kam anders. Das mulmige Gefühl des Anfangs wich ganz schnell einer speziellen Begeisterung. Ich habe die folgenden zwei Stunden als ein Highlight meines Lebens erlebt. Ich bin mit 1:57:46 nicht meine Wunschzeit gelaufen, aber es war von mehr als 34.000 Teilnehmern die 8.584-beste Zeit, das heißt ich habe während meines Laufes von ganz hinten ca. dreiviertel des Teilnehmerfeldes oder mehr als 25.000 Läufer hinter mir gelassen oder überholt – dieser Gedanke ist für mich im nachhinein sooo lustig und imposant zugleich. Dabei bin ich gelaufen wie immer: nicht um mein Leben, sondern mit einem diebischen Spaß, die dem Menschen inne wohnende Trägheit ein weiteres Mal überwunden zu haben, mit Freude an der Bewegung, mit ganz tiefen Atemzügen zwischendurch. Mit dem Beschau unserer tollen Stadt während des Laufens, durch das Brandenburger Tor, vorbei an der Siegessäule, über den Kudamm, vorbei an der Staatsbibliothek und der Philharmonie, dem Potsdamer Platz, der Leipziger Straße, Alexanderplatz usw. Und mit diesen tollen Leuten am Straßenrand, mit Kindern, die ständig abklatschten, mit unzähligen Samba-Combos, mit wildfremden, lachenden Menschen, die meinen Namen riefen (wie so viele andere Namen, weil diese in großen Lettern auf den Startnummern stehen) und mich anfeuerten, „Go, Marcos, go!, „Du schaffst das!“, „Gib alles!“, während ich den Daumen hob, ein V machte oder einfach nur lachte und danke sagte.

In besonderer Erinnerung ist mir eine Läuferin geblieben, die ich für einige hundert Meter direkt vor mir hatte. Sie hatte sich neben der Startnummer auf dem Bauch auch auf den Rücken ein Schild gepinnt und da stand:

„Ich laufe gegen den Krebs

2006 Diagnose Hodgkin-Lymphom

2017 Berliner Halbmarathon“

Ich bin als Zehnjähriger wegen dieser Geschichte mal untersucht worden. Ich wusste also, wie schwer dieser Hammer bei ihr eingeschlagen haben musste. Ich hätte sie während des Laufens am liebsten gedrückt und ihr weiter Mut zugesprochen, und ich fand es einfach irre, mit welcher Kraft und, ja, auch Anmut sie über den Asphalt peeste. Das Charlottenburger schloss in Sichtweite lenkte mich so ab, dass ich sie daraufhin aus den Augen verlor. Aber an sie und ihr Banner auf dem Rücken muss ich die ganze Zeit denken. Da hat jemand einen üblen Krebs besiegt, und jetzt läuft sie Halbmarathon. Respekt, Respekt, Respekt.

 

Nach dem Halbmarathon

Es war schön, ich freue mich, dass ich das Ziel erreicht habe, ich bin dankbar. Ja, und danke nochmals an all die vielen Menschen an den Straßenrändern der großen Stadt, die so vielen Läufern aus der ganzen Welt auf ihren 21 Kilometern über den Berliner Asphalt bedingungslos Mut und Motivation angedeihen ließen.

Last but not least sprach ich der Dame am Kleiderwagen beim Abholen meiner Klamotten das herzlichste Dankeschön aus, das mir zu diesem Zeitpunkt mit brennenden Oberschenkeln und Beton in den Waden möglich war. Ohne sie, die meinen Rucksack schnappte, um ihn in den Kleiderbeutel zu stopfen [was meine Aufgabe gewesen wäre], hätte ich ein geschlossenes Starttor vorgefunden. Und das sagte ich ihr auch. Dame 2 wurde verlegen, freute sich und war sichtlich gerührt. Es war ein so ehrlicher Moment. Auch das werde ich nie vergessen..

Vor mir liegt jetzt gefühlt ein neues Leben. Ich meine, es ist das gleiche wie vorher, aber in meinem Kopf ist alles ganz anders. Ein Leben ohne Ehefrau. Eines mit zwei Kindern und einer Zukunft, in der ich für mich alleine entscheide, was ich brauche, was mir gut tut, was ich will und nicht will, was ich mir wünsche und wovon ich träume. Meine zwei kleinen Zauberlehrlinge an meiner Seite und immer ganz oben :-).

Wenn ich mich von diesem Lauf erholt habe, werde ich weiter meine Runden drehen und mich daran freuen, dass ich im auf den Straßen dieser Stadt wieder meine Trägheit überwinde. Ich werde mich daran freuen, das freudige Glühen meines Körpers nach dem Laufen zu spüren und Pläne geschmiedet zu haben – ob sie dann in die Tat umgesetzt werden ist eine andere Sache. Aber das ich den 37. Berliner Halbmarathon gelaufen bin, ist mein ganz persönlicher Beweis, dass ich Dinge schaffe, die ich mir vornehme — und genau das macht einen Heidenspaß!.

Die Plakette des 37. Berliner Halbmarathon
Die Medaille des 37. Berliner Halbmarathon: Bereits 10 min. nach Abgabe des Chips mit Name & Zeit versehen. Top!

 

Statistik

Startnummer: 24755

Zeit: 1:57:46 (5km: 0:27:31 / 10km: 0:55:13 / 15km: 1:23:20)

Platz: 8584

Platz: 1133 in der Klasse M50

Die Urkunde des 37. Berliner Halbmarathon
Meine Urkunde für 21 km in 1:57:46. Nicht gerade ein grafisches Schmuckstück, aber von großer Bedeutung für den Besitzer, besser gesagt: für die Besitzer

 

Von Marcos López

Marcos López ist Musikexperte, Online-Redakteur, Web-, Medien- und Filmgestalter. Als erfahrener und versierter Spezialist hat er sich auch als Radiomoderator, DJ & Produzent einen Namen gemacht. Sein Projekt Marmion mit den Titel Schöneberg ist international bekannt. Er hat einige Weltreisen absolviert und verbrachte mehr als acht Jahre im Ausland (Australien, Costa Rica, Bali, Japan, Russland, USA, Südafrika, Thailand, Spanien, Indien, etc.). Von 2008 bis 2016 war er Redaktionsleiter der Musikvideoplattform c-tube.

Der Berliner beschäftigt sich des Weiteren mit den Themen Film, Fußball, Journalismus, Internet, Archivierung, Dokumentation, Meditation, Ernährung, Laufen und Familie.

Du findest Marcos auch auf facebook, twitter, youtube und mixcloud.

2 Antworten auf „Mein erster Halbmarathon – der 37. Berliner Halbmarathon“

Das ist wirklich ein komplett verrückter Bericht. Daumen hoch bei dem Stress noch so eine Top Zeit gelaufen zu sein! Deine Nerven möchte ich aber auch gerne mal haben 🙂 Ich war nach einer fast schlaflosen Nacht schon gegen halb 9 am Alexanderplatz. So knapp anzureisen und dann wegen eines Bananen-Ersatzkaufes die angedachte S-Bahn zu verpassen – unglaublich! Ganz großer Respekt vor deiner Leistung!

Hallo Denis, ja, um 8:30 habe ich gerade die Eier für die Pfannekuchen in die Schüssel geschlagen… Im Nachhinein hat es der liebe Herrgott (und die Damen auf dem Möbel Höffner-Truck 😉 wirklich gut mit mir gemeint, ein ‚Verkettung glücklicher Umstände‘ sozusagen, die mich zwei Sekunden vor der Schließung des Starttores noch ins Feld hüpfen ließen. Jetzt habe ich meine Medaille, und ich bin richtig happy!

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